FÜNFUNDDREISSIG
Ich stürme durch die Tür und will so schnell wie möglich nach oben, damit ich Riley meinen Valentins-Lolli zeigen kann, den Lolli, der die Sonne scheinen und die Vögel singen lässt und den ganzen Tag verwandelt hat, obwohl ich nichts mit dem Absender zu tun haben will.
Doch als ich sie allein auf dem Sofa sitzen sehe, kurz bevor sie sich umdreht und mich sieht, erinnert mich irgendetwas daran, wie klein und einsam sie aussieht, an das, was Ava gesagt hat - dass ich dem falschen Menschen Lebewohl gesagt habe. Und jäh entweicht jegliche Luft aus mir.
»Hey«, sagt sie und grinst mich an. »Du glaubst echt nicht, was ich gerade bei Oprah gesehen habe. Da war dieser Hund, dem fehlen beide Vorderbeine, und er kann trotzdem immer noch -«
Ich lasse meine Tasche zu Boden fallen, setze mich neben sie, schnappe mir die Fernbedienung und schalte den Ton aus.
»Was ist denn?« Finster blickt sie mich an, weil ich Oprah zum Schweigen gebracht habe.
»Was machst du hier?«, frage ich zurück.
»Ah, ich hänge auf deinem Sofa rum, warte darauf, dass du nach Hause kommst.« Sie schielt und streckt die Zunge heraus. »Blöde Frage.«
»Nein, ich meine, warum bist du hier? Warum bist du nicht - woanders?«
Riley verzieht den Mund und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Stocksteif und mit starrem Gesicht zieht sie die stumme Oprah mir vor.
»Wieso bist du nicht bei Mom und Dad und Buttercup?«, frage ich und sehe, wie ihre Unterlippe zu beben beginnt, zuerst nur ganz wenig, aber bald ist es ein richtiges Zittern, und dabei fühle ich mich so grässlich, dass ich mich zwingen muss fortzufahren. »Riley ...« Ich stocke und schlucke heftig. »Riley, ich glaube, du solltest nicht mehr herkommen.«
»Du schmeißt mich raus?« Sie springt auf, die Augen vor Empörung weit aufgerissen.
»Nein, überhaupt nicht, ich meine nur -«
»Du kannst mich nicht daran hindern, dich zu besuchen, Ever! Ich kann machen, was ich will! Alles! Und du kannst nichts dagegen tun!«, faucht sie und tigert kopfschüttelnd im Zimmer auf und ab.
»Das ist mir klar.« Ich nicke zustimmend. »Aber ich denke, ich sollte dich auch nicht darin bestärken.«
Riley verschränkt die Arme und zieht einen Flunsch. Dann lässt sie sich aufs Sofa fallen und kickt mit einem Bein, so wie sie es immer macht, wenn sie wütend, traurig oder frustriert ist, oder alles auf einmal.
»Es ist nur, na ja, eine Weile hat es so ausgesehen, als wärst du mit irgendwas anderem beschäftigt, irgendwo anders, und das schien dir total in den Kram zu passen und zu gefallen. Aber jetzt bist du die ganze Zeit hier, und ich überlege, ob das meinetwegen so ist. Denn auch wenn ich den Gedanken nicht ertragen kann, dich nicht um mich zu haben, es ist wichtiger, dass du glücklich bist. Und die Nachbarn zu beobachten und Oprah zu schauen und auf mich zu warten, na ja, ich glaube nicht, dass das das Beste ist.« Ich halte inne und atme tief durch. Ich wünschte, ich müsste nicht weitersprechen, doch ich weiß, dass es nicht anders geht. »Obwohl es unbestreitbar das Beste an meinem Tag ist, mich mit dir zu treffen, irgendwie denke ich, dass es einen anderen - einen besseren - Platz für dich gibt.«
Unverwandt starrt sie den Fernseher an und sitzt schweigend da, bis sie es endlich nicht mehr aushält. »Nur zu deiner Information, ich bin glücklich. Mir geht's bestens, und ich bin glücklich, also bitte.« Kopfschüttelnd verdreht sie die Augen und verschränkt dann wieder die Arme vor der Brust. »Manchmal wohne ich hier, und manchmal wohne ich woanders. Im Sommerland, wo's übrigens ziemlich supertoll ist, falls du dich nicht mehr daran erinnern kannst.« Verstohlen schielt sie zu mir herüber.
Ich nicke. Oh, ich erinnere mich definitiv daran.
Riley lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. »Also, das Beste aus zwei Welten, stimmt's? Wo ist das Problem?«
Ich presse die Lippen aufeinander und betrachte sie. Ich bin nicht bereit, mich von ihren Argumenten umstimmen zu lassen, verlasse mich darauf, dass ich das Richtige tue. »Das Problem ist, dass ich glaube, dass es etwas noch Besseres gibt. Einen Ort, wo Mom und Dad und Buttercup auf dich warten -«
»Hör zu, Ever«, schneidet sie mir das Wort ab. »Ich weiß, du denkst, ich bin hier, weil ich dreizehn sein wollte, und weil das nicht passiert ist, lebe ich stellvertretend durch dich. Und, ja, vielleicht stimmt das teilweise auch, aber hast du je darüber nachgedacht, dass ich vielleicht hier bin, weil ich es auch nicht ertragen kann, dich zurückzulassen?« Sie sieht mich an, und ihre Augen blinzeln heftig, doch als ich etwas sagen will, hebt sie abwehrend die Hand und fährt fort. »Zuerst bin ich ihnen nachgelaufen, na ja, sie sind die Eltern, und ich dachte, das müsste so sein, aber dann habe ich gesehen, dass du zurückgeblieben bist, und ich habe dich gesucht. Aber als ich dort angekommen bin, warst du schon weg, ich konnte die Brücke nicht wiederfinden, und dann, na ja, dann saß ich eben fest. Aber danach bin ich ein paar Leuten begegnet, die schon seit Jahren dort sind, also, Erdenjahre, und die haben mich rumgeführt, und -«
»Riley -«, setze ich an, doch sie lässt mich nicht weitersprechen.
»Und nur damit du's weiß, ich habe Mom und Dad und Buttercup gesehen, und ihnen geht's gut. Eigentlich geht's ihnen sogar besser als gut, sie sind glücklich. Sie wünschen sich nur, dass du aufhören würdest, dich die ganze Zeit so schuldig zu fühlen. Sie können dich sehen. Das weißt du doch, oder? Nur kannst du sie nicht sehen. Die, die über die Brücke gegangen sind, kann man nicht sehen, nur die wie mich.«
Die Details zum Thema, wen ich sehen kann und wen nicht, sind mir egal. Ich habe noch immer mit dem Teil zu tun, dass sie nicht wollen, dass ich mich so schuldig fühle, auch wenn ich weiß, dass sie nur nett sind und auf Eltern machen wollen und versuchen, es mir leichter zu machen. Denn die Wahrheit ist, der Unfall war meine Schuld. Wenn ich meinen Dad nicht dazu gebracht hätte umzukehren, damit ich dieses dämliche Pinecone-Lake-Cheerleading-Camp-Sweatshirt holen konnte, das ich vergessen hatte, dann wären wir niemals genau zu der Zeit an dieser Stelle gewesen, auf dieser Straße, als irgendein blödes, verwirrtes Reh uns genau vors Auto lief und meinen Dad zwang, jäh auszuweichen, den Steilhang hinunterzuschießen und gegen den Baum zu krachen, wobei alle außer mir ums Leben kamen.
Meine Schuld. Alles.
Ganz und gar.
Doch Riley meint nur kopfschüttelnd: »Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann Dad, denn jeder weiß doch, dass man das Lenkrad nicht verreißen soll, wenn einem ein Tier vor den Wagen rennt. Man soll einfach draufhalten und weiterfahren. Aber du und ich, wir wissen beide, dass er das nicht fertiggebracht hat, also hat er versucht, uns alle zu retten, und am Ende hat er das Reh verschont. Aber vielleicht ist ja auch das Reh schuld. Ich meine, was hat sich das Vieh auf der Straße rumzutreiben, wenn es in einem wunderschönen Wald lebt? Oder vielleicht ist die Leitplanke schuld, weil sie nicht stabiler war, besser gebaut, aus festerem Material. Oder vielleicht auch die Autofirma, wegen einer schlechten Lenkung und miesen Bremsen. Oder vielleicht -« Sie hält inne und sieht mich an. »Was ich sagen will, es ist niemandes Schuld. So ist es einfach gelaufen. So hat es einfach sein sollen.«
Ich würge ein Aufschluchzen hinunter und wünsche mir, ich könnte das glauben, aber ich kann es nicht. Ich weiß es besser. Ich kenne die Wahrheit.
»Wir alle wissen das und akzeptieren das. Also wird's jetzt Zeit, dass du es auch weißt und akzeptierst. Anscheinend war deine Zeit einfach noch nicht gekommen.«
Meine Zeit war gekommen. Nur Damen hat gemogelt, und ich habe mitgemacht.
Ich schlucke schwer und starre den Fernseher an. Oprah ist vorbei, und Dr. Phil hat ihren Platz eingenommen - ein glänzender Glatzkopf und ein sehr großer Mund, der nie aufhört, sich zu bewegen.
»Weißt du noch, als ich so durchsichtig war? Das war, weil ich im Begriff war, überzutreten. Jeden Tag bin ich näher und näher ans andere Ende der Brücke rangeschlichen. Aber gerade, als ich beschlossen hatte, ganz rüberzugehen, na ja, da schien es, als würdest du mich am allermeisten brauchen. Und ich konnte es einfach nicht aushalten, dich zurückzulassen - ich kann's immer noch nicht aushalten«, sagt Riley.
Doch obwohl ich wirklich möchte, dass sie bleibt - ich habe ihr doch schon ein Leben gestohlen, ich werde ihr nicht noch das Leben nach dem Tod stehlen. »Riley, es ist Zeit, dass du gehst«, flüstere ich so leise, dass ein Teil von mir hofft, sie hat es gar nicht gehört. Aber ich weiß, dass es das Richtige ist, also sage ich es noch einmal, diesmal lauter. Resonanz schwingt in den Worten mit, Überzeugung: »Ich glaube, du solltest gehen«, wiederhole ich und traue meinen Ohren kaum.
Sie erhebt sich vom Sofa. Ihre Augen sind groß und traurig, ihre Wangen glänzen vor kristallklaren Tränen.
Und ich schlucke krampfhaft, als ich sage: »Du hast keine Ahnung, wie sehr du mir geholfen hast. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Du bist der einzige Grund, warum ich jeden Tag aufgestanden bin und einen Fuß vor den anderen gesetzt habe. Aber jetzt geht's mir besser, und es wird Zeit, dass du ...«Ich stocke und würge an meinen eigenen Worten; ich kann einfach nicht weitersprechen.
»Mom hat gesagt, dass du mich irgendwann zurückschicken wirst.« Riley lächelt.
Ich schaue sie an und überlege, was das heißt.
»Sie hat gesagt: Eines Tages wird deine Schwester bestimmt endlich erwachsen und tut das Richtige.«
Und im selben Augenblick, in dem sie das sagt, platzen wir beide laut heraus und lachen los. Über die Absurdität dieser Situation. Über den Hang unserer Mutter zu sagen: »Eines Tages wirst du bestimmt endlich erwachsen und ...« Wir lachen, um die Spannung etwas zu lösen und den Abschiedsschmerz zu lindern. Und weil es sich verdammt schön anfühlt zu lachen.
Als das Gelächter verklingt, sehe ich sie an und frage: »Du kommst doch trotzdem mal vorbei und sagst Hallo, nicht wahr?«
Sie schüttelt den Kopf und schaut weg. »Ich glaube nicht, dass du mich dann noch sehen kannst, denn Mom und Dad kannst du ja auch nicht sehen.«
»Was ist mit dem Sommerland? Kann ich dich da sehen?«, erkundige ich mich und denke bei mir, ich kann ja noch mal zu Ava gehen, kann mir zeigen lassen, wie man den Schutzschild wieder beseitigt, aber nur, um Riley im Sommerland zu besuchen, für nichts sonst.
»Ich weiß es nicht genau. Aber ich tue mein Bestes, dir ein Zeichen zu geben, irgendwas, damit du weißt, dass ich okay bin, irgendwas, das eindeutig von mir kommt.«
»Was denn?«, frage ich und gerate in Panik, als ich sehe, dass sie bereits verblasst. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht. »Und woran werde ich es erkennen? Wie kann ich sicher sein, dass es von dir kommt?«
»Du wirst es wissen, verlass dich auf mich.« Sie lächelt und winkt zum Abschied, als sie verschwindet.